Frau am Fenster

Predigt von Dr. Margot Käßmann, gehalten am 02.06.2024 im Greifswalder Dom

Gemälde einer Frau im Kleid, die, dem Künstler den Rücken zugewandt, in einer Fensternische im Inneren eines Hauses steht und aus dem geöffnete Fenster schaut.

Liebe Gemeinde,

schauen wir zunächst dieses kleine feine Bild an: Caspar David Friedrich hat es wohl 1822 gemalt, vier Jahre nach seiner Eheschließung. Seine Frau Caroline ist zu sehen, wie sie aus seinem Atelier hinausschaut auf die Elbe. Am anderen Elbufer erkennen wir Pappeln, ebenso einen Schiffsmast. Zunächst habe ich ihn für einen Kirchturm gehalten dort oben im Fensterkreuz. Der Maler hat spät geheiratet, seine Frau ist fast zwanzig Jahre jünger. Wir haben in seinem Brief eben gehört: An das Eheleben musste er sich erst gewöhnen. Aber er scheint es zu mögen, wenn er schreibt: „Seit sich das Ich in Wir verwandelt ist gar manches anders geworden. Es wird mehr gegessen, mehr getrunken, mehr geschlafen, mehr gelacht, mehr geschäkert, mehr gelepscht.“ Das erinnert ein wenig an Martin Luther, der auch über 40 war, als er Katharina von Bora heiratete und erzählte, er war manchmal überrascht, neben zwei Zöpfen in seinem Bett aufzuwachen. Nach dem Motto „spät gefreit, doch noch gefreut“.

Caroline sieht zart, zerbrechlich aus in ihrem so wunderbar gezeichneten Kleid. Wie ist wohl ihr Gesichtsausdruck? Ängstlich, erfreut, glücklich, traurig? Sie ist abgewandt und so bleibt ein gewisses Rätsel. Das wurde auch sogleich kritisiert. Die Wiener Zeitschrift für Kunst schrieb noch im selben Jahr, das Bild wäre „sehr wahr und hübsch, wenn Friedrich hier nur nicht wieder seiner Laune gefolgt wäre, die es so sehr liebt, Personen nämlich gerade von hinten darzustellen.“ Das finde ich lustig, die Rückenansicht irritierte manche offenbar. Ich finde sie gerade anregend, weil sie so vieles offen lässt für die Interpretation. Und sie ist typisch für Caspar David Friedrich, denn Gesichtsausdrücke waren nicht seine Stärke, das war ihm selbst bewusst. Wohl aber war er ein Meister mit Blick auf Himmel, Landschaften und Sehnsucht.

Das Fensterbild ist ein typisches Sehnsuchtsmotiv. Caroline schaut in die Ferne. Vielleicht will sie hinaus aus der Enge der kleinen Wohnung, weit weg mit dem Schiff? Sehnt sie sich nach der Weite des Himmels, die sich hinter dem Fenster eröffnet? Das Atelier, in dem sie steht, ist sehr karg gezeichnet, da ist nichts, was Gemütlichkeit oder Wohnlichkeit andeutet. Für sie war das Atelier oft fast Eifersuchtsobjekt. Ihr Mann verzog sich dort, sie durfte selten eintreten. Einfach war die Ehe mit diesem Mann nicht, der wohl massiv unter Depressionen litt. Caspar David Friedrich hat nicht oft Frauen gemalt. Wenn, dann waren sie meist in Innenräumen: Frau mit Leuchter, Frau auf der Treppe. Sie stehen nicht wie der Künstler selbst auf den berühmten Kreidefelsen in großer Weite wie auch der einsame „Mönch am Meer“.

Florian Illies schreibt in seinem Buch „Zauber der Stille“ zu dem Bild: „ … wir, die Betrachterinnen und Betrachter des Bildes, (können) nicht mehr hinausschauen. Sie steht uns im Weg. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als mit den Augen der Frau zu schauen. Und diesen Blick zu vereinigen mit unserem eigenen auf ihren Rücken. So erleben wir gleichzeitig die Leere des Raumes hinter ihr und die Fülle der Welt vor ihr.“ (S. 178) Und weiter: „Vielleicht hat Friedrich es so gemalt, damit wir gezwungen sind, den Blick nach oben zu richten, in die Luft.“ (S. 235) Und ja, der Himmel war ihm wichtig, die Aussicht auf das Meer, das Gottes Weisheit, Geborgenheit, Allmacht trägt. Und das schlichte Fenstergitter, es erinnert an ein Kreuz.

Zwei Spuren dieses Blicks will ich nachgehen und am Ende einen kleinen Kontrapunkt setzen. Da ist zunächst ...

Die Sehnsucht nach Gefühl

Caspar David Friedrich, Greifswalds berühmter Sohn, der in diesem Jahr mit vielen Ausstellungen und Artikeln gefeiert wird, hatte mehrfach Kontakt zu Friedrich Schleiermacher. Der sprach immer wieder vom „religiösen Gefühl“. Und in den Bildern des Malers spiegelt sich etwas von dieser Überzeugung. Uwe Michelsen meint: „Was Schleiermacher predigte, brachte Friedrich auf die Leinwand.“[1] Nach der Aufklärung – auch ein Kantjubiläum feiern wir ja dieses Jahr – war auch die Theologie bemüht, sich vor allem des Verstandes zu bedienen. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein und der Glaube nicht allein vom Verstehen. Es gibt diese Sehnsucht nach dem religiösen Gefühl oder nennen wir es Spiritualität.

Schleiermacher erklärt, es gebe nicht nur Lehre und Moral, sondern „Sinn und Geschmack für die Unendlichkeit“. Er schreibt: „So betet der fromme Mensch und redet kein Wort und der Höchste vernimmt ihn; so malet der fühlende Künstler, und der fühlende Mensch versteht und erkennt es.“[2] Friedrich malt von innen heraus und die Weite seiner Bilder, die Sehnsucht nach mehr als den engen Alltagsräumen übertragen sich bis heute.

Der Maler geriet erst einmal in Vergessenheit, bis die Nationalsozialisten ihn wiederentdeckten. Die Romantik wird für sie ein Beleg für „deutsche Innerlichkeit“. Florian Illies zitiert in seinem Buch einen Aufsatz, in dem es heißt: „In Caspar David Friedrichs Werk, der Leistung keines anderen Volkes vergleichbar, wird das ewige Deutschland immer wesentliche Züge seiner Seele in reiner Verkündigung erblicken.“ (S. 121)

Da muss ich doch schlucken. Mich faszinieren die Bilder des Malers, aber ich käme nie auf die Idee, sie nationalistisch zu deuten. Es geht nicht um „deutsche“ Innerlichkeit, sondern um die Sehnsucht aller Menschen nach mehr im Leben, nach Sinn, ja vielleicht nach Gott. Aber die Vereinnahmung geht weiter: 1974 wird Friedrich in der DDR als „Vorläufer des marxistischen Weltbildes“ gefeiert.[3] Und auch heute geht es weiter. Caspar David Friedrich wird, so Uwe Michelsen, „hochstilisiert zum Klimaaktivisten der ersten Stunde“.[4] Seufz, der arme Maler! Erst vergessen, dann für die je eigene Haltung gebraucht, wie es gerade so passt. Dabei ist Religion wohl doch der zentrale Zugang zu den Bildern von Caspar David Friedrich. Er stammt aus einem christlich geprägten Elternhaus, Frömmigkeit und Auferstehungshoffnung prägen ihn. Die Natur, Gottes Schöpfung ist sein Thema, die Demut auch, die all die unfassbare Weite der Schöpfung uns vermittelt. Der Protestantismus war gewiss allzu oft kopflastig, hat viel für das Hirn zum Denken gefordert, viele, viele Worte von Kanzeln gepredigt, aber zu wenig fürs Herz mitgegeben. Dabei war doch von Anfang an das Singen Ausdruck evangelischer Spiritualität. Martin Luther hat seine Theologie über seine Lieder verbreitet und wollte die Gemeinde beteiligt sehen im Gottesdienst, indem sie singen durfte. Und das war auch zur Zeit der Romantik durchaus beliebt. Deshalb werden wir nach der Predigt ein Volkslied singen, dass in derselben Zeit entstanden ist wie unser Bild: „Weißt du wieviel Sternlein stehen“. Auch in diesem Lied wird die Erhabenheit der Natur, die Weite des Himmels gepriesen.

Auch unsere säkulare Zeit, in der sich viele von Kirche und Christentum abwenden, kennt Sehnsucht nach mehr, nach Sinn, nach Spiritualität. „Himmelmalen ist für ihn wie Gottesdienst“ soll Caroline über ihren Mann gesagt haben.[5] Und überhaupt: Die Wolken haben es ihm angetan, wenn wir seine Bilder anschauen. Der Blick in die Wolken hat offensichtlich mystische Züge für ihn. Gerade hier oben im Norden, wo kein Hügel die Sicht verstellt, kann uns diese Weite des Himmels berühren, können wir Gott spüren. Unser Christsein bindet sich an die Worte der Bibel. Aber wir dürfen Gottes Geistkraft auch spüren, erleben, einatmen. Sogar als Protestanten! Es täte unseren Kirchen gut, der Sehnsucht nach erfahrbarem Glauben mehr Raum zu geben.
Die zweite Spur:

Es ist eine Frau, die da steht mit ihrer Sehnsucht

Die zweite Spur: Es ist eine Frau, die da steht mit ihrer Sehnsucht. Beim Nachdenken über dieses Bild und seine biblischen Bezüge kamen mir Psalmen in den Sinn, die die Schöpfung preisen. Aber auch eine Frau mit der Sehnsucht nach Sinn. Wir haben eben in der Lesung von der Begegnung einer Frau mit Jesus gehört. Er bittet sie um Wasser und erklärt ihr, er habe Wasser zu geben, das den Durst für immer stillen kann. Es entspinnt sich ein spannender Dialog zwischen beiden. Das ist an sich schon erstaunlich, denn Männer seiner Zeit reden nicht mit einer Frau auf Augenhöhe – in unserer Zeit übrigens oft auch nicht. Und er spricht unbefangen und interessiert mit einer Ausländerin aus Samarien – auch das damals wie heute ungewöhnlich.

Die Frau ohne Namen aus Samarien hat Sehnsucht nach Sinn. Und Jesus verspricht ihr: Wenn sie sich mit ihm verbindet hin zu Gott, wird sie finden, wonach sie dürstet. Gotteserfahrung, die Liebe Gottes. Ihr Leben findet Halt und Sinn, weil Gott ihr das durch Jesus zusagt.

Die Frau am Fenster, auch sie ohne Namen, schaut mit ihrer religiösen Sehnsucht in die Weite. Die Sehnsucht nach Sinn, nach Liebe, nach Gott verbindet sie mit jener Frau aus Samarien. Und mit allen Frauen der Welt bis heute mit ihrer Sehnsucht nach Freiheit, nach Gleichberechtigung. Es war ein weiter Weg für unsere Kirche, bis sie begriffen hat, dass Frauen vor Gott nicht weniger wert sind als Männer. Luther hat gesagt, jeder getaufte Christ sei „Priester, Bischof, Papst“. Wahrscheinlich konnte er sich nicht wirklich eine Priesterin, Bischöfin oder Päpstin vorstellen, aber es ist am Ende die Konsequenz dieser Tauftheologie, die dazu geführt hat, dass Frauen in unserer Kirche alle Ämter wahrnehmen können. Und es waren Frauen, die immer wieder darauf gedrängt haben, der Spiritualität, der Erfahrbarkeit des Glaubens mehr Raum zu geben als dem Wort allein. Ich erinnere mich daran, wie das belächelt wurde nach dem Motto: „Die mit ihren bunten Tüchern und ihrer Tanzerei.“ Dagegen habe ich immer den Kirchenvater Augustin ins Feld geführt, der gesagt hat: „Mensch lerne tanzen, sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit dir anzufangen!“ Ja, singen, tanzen, das Einatmen der Weite, all das ist Teil christlicher Spiritualität. In ihrem Roman „Die Frau am Fenster“ hat Birgit Poppe das Leben von Caroline an der Seite Caspars nachzuvollziehen versucht. Immer ging das Malen vor. Sie musste sich anpassen, die gesamte – wie wir heute sagen – mental load von Haushalt und Kindererziehung wurde ihr überlassen. Vier Kinder hat sie bekommen, eines wurde tot geboren. Oft störten die Kinder den Künstler in seinen Schaffensphasen, so sehr seine Liebe zu Kindern in vielen Texten betont wird. Caroline wurde dann mit ihnen ausgelagert. Ein Frauenleben wie so viele. Und doch hat sie zu ihm gehalten, auch als er am Ende verzweifelt war, weil seine Bilder nicht mehr gefragt waren.
Zuletzt der Kontrapunkt:

Zur inneren Sehnsucht gehört auch die äußere

Caspar David Friedrich liebte das Wasser, das Meer, die Weite, davon zeugen seine Bilder. Aber er wusste auch etwas von der Bedrohung, etwa als sein jüngerer Bruder Christoffer starb, nachdem der dem ins Eis eingebrochenen Caspar zu Hilfe kommen wollte oder auch, als die Mutter früh starb. Er war aber wohl immer eher ein Träumer, ja wirklich ein Romantiker. Und doch hatte er eine durchaus demokratische Gesinnung (Illies S. 129), die allerdings wohl sehr von der Abneigung gegenüber Napoleon und Frankreich bestimmt war.

Bei aller Liebe zur Weite des Himmels, zum Meer, zu Spiritualität und Innerlichkeit, wird christlicher Glaube sie aber nie völlig zurückziehen aus der Welt. Martin Luther hat das klösterliche Leben abgelehnt, denn warum sollten Menschen sich aus der Welt zurückziehen, in die Gott sie stellt, die Gott geschaffen hat? Deshalb werden Christinnen und Christen immer auch danach streben, etwas von Gottes Wirklichkeit inmitten dieser Welt umzusetzen. Wäre das anders, hätte Karl Marx Recht behalten, denn dann wäre Religion Opium, mit dem sich das Volk betäubt, weil es die Realität von Unrecht und Gewalt nicht erträgt.

Die Frau am Brunnen wird zurückgehen und andere für die Botschaft des Jesus von Nazareth begeistern. Und diese Botschaft ist eine radikale Anfrage an die Realität der Welt. Jesus hat Gerechtigkeit für die Armen verkündet. Als ihn ein Freund mit der Waffe verteidigen wollte, hat er gesagt: „Steck das Schwert an seinen Ort!“ Und er hat uns eine ungeheuerliche Provokation hinterlassen: „Liebet eure Feinde, bittet für die, die euch verfolgen!“

Bei aller Begeisterung für Caspar David Friedrich, bei aller Wiederentdeckung der Romantik, bei aller Freude über das wunderbare Fenster von Olafur Eliasson hier im Dom: Christsein bedeutet nicht Weltflucht. Wir sehnen uns nach spirituellem Erleben, der Nähe Gottes, der Erfahrung der Geistkraft. Aber wir wissen uns dadurch gestärkt dazu, mitten in der Welt unseren Mann, unsere Frau zu stehen. Und das ist gerade in diesen Tagen so wichtig, in denen Nationalismus stetig fortschreitet, Hassparolen gegrölt werden, die Militarisierung der Gesellschaft um sich greift. Unser Glaube, die Glaubenserfahrung ermutigt uns, aktiv zu sein in der Gesellschaft, Haltung zu zeigen gegen Krieg und für Frieden, gegen Nationalismus und für Völkerverständigung, gegen das Elend so vieler und für das Teilen aller Reichtümer der Erde.

Spiritualität und Handeln gehören zusammen. Gotteserfahrung ermutigt zur Lebenshaltung. Wir erleben eine Sehnsucht nach Gottes Zukunft, in der Gerechtigkeit und Frieden sich küssen werden, wie der Psalmbeter sagt, in der die Menschen nicht mehr lernen, Krieg zu führen, wie der Prophet weiß. Und genau diese Sehnsucht stellt uns mit beiden Füßen auf die Erde. Sie ermutigt uns, Spuren der Hoffnung zu legen mitten in dieser Welt, wo immer wir können. Der Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit, der Hoffnung auf ein friedliches Miteinander in dieser Welt. So holen wir ein bisschen Himmel auf die Erde.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen. 

[1] Uwe Michelsen, Friedrich und der Liebe Gott, in: ZZ 5/24, S. 16ff.; S.. 19.
[2] Zitiert nach: Roland Rosenstock, Der tiefe Glaube des Malers Caspar David Friedrich, Sonntagsblatt 8.Februar 2024.
[3] Illies, aaO., S. 195.
[4] Michelsen, aaO. S. 16.
[5] Illies, aaO., S. 193.

Gemälde einer Frau im Kleid, die, dem Künstler den Rücken zugewandt, in einer Fensternische im Inneren eines Hauses steht und aus dem geöffnete Fenster schaut.

„Frau am Fenster“: Caspar David Friedrich (1822)