Wie Kant mich aufklärte
von Dr. Dr. Frank Hofmann
In meiner Kindheit gab es auf jede Frage eine eindeutige Antwort. Der neuapostolische Kosmos, in dem ich groß werden musste, war überschaubar und klar. Die Bibel gab den Rahmen für alle Fragen nach Raum und Zeit. Und der Sinn des Lebens war unhinterfragbar: auf die Wiederkunft des Bräutigams für die Erste Auferstehung zu warten, weshalb ich auch mein Zimmer immer pedantisch aufräumen musste. Was sollen die von uns denken, die hierbleiben müssen?
In der Jugend bröckelte dieser enge Kokon. Meine Fragen wurden immer seltener im Elternhaus beantwortet, sondern an den Apostel weitergeleitet. Was der antwortete, durfte nicht bezweifelt werden. Im Geheimen zweifelte ich dennoch.
Im Griechisch-Unterricht der 11. Klasse kam dann der Durchbruch. Im Rahmen des Themas Vorsokratiker sollte ich ein Referat verfassen über den »Ersten Widerstreit der transzendentalen Ideen« aus der »Kritik der reinen Vernunft«. Zwei Kopien, vier Seiten. Wie groß das Gesamtwerk ist, wusste ich damals nicht. Zum Glück. So machte ich mich unbefangen an eine Lektüre, die mein Leben und meine Pläne völlig neu aufstellte.
Der Witz des »Ersten Widerstreits« ist, dass auf einer Doppelseite synoptisch zwei Beweise geführt werden: Links wird hergeleitet, warum die Welt einen Anfang in der Zeit und ein Ende im Raum hat. Rechts wird das Gegenteil bewiesen: Die Welt hat weder Anfang noch Ende, sie ist räumlich und zeitlich unbegrenzt. Kants Pointe dieses Doppelbeweises ist, sehr verkürzt, dass unser Denken sich zwar viele Fragen stellen, aber nicht auf alle eine vernünftige und eindeutige Antwort finden kann.
Noch heute, rund 45 Jahre später, kann ich mich noch daran erinnern, welche Weite sich auf einmal vor mir auftat. Es war, als würde mir erstmals der Zugang zum Hauptteil meines Gehirns gewährt. Die Folgen waren gewaltig: Vertiefung in die Philosophie, Austritt aus der Kirche, Bruch mit dem Elternhaus, Finanzierung über Abend- und Ferienjobs. Statt für Maschinenbau schrieb ich mich nach dem Abitur für Philosophie ein, was als Angehöriger eines der geburtenstärksten Jahrgänge ein gewisses ökonomisches Risiko darstellte. Das war mir egal, Kant hatte in mir den philosophischen Eros gezündet.
Kant begleitete mich mindestens durchs Studium, wenn nicht sogar durchs Leben. Einmal als Kantianer wiedergeboren, legt man nicht so leicht seine Eierschalen ab. Ich witterte den transzendentalphilosophischen Ansatz bei so verschiedenen Denkern wie Alfred Sohn-Rethel, Richard Rorty und Karl Barth und fühlte mich sofort angezogen.
Dass zu seinem 300. Geburtstag so viele Würdigungen erscheinen, die Kants Bedeutung und Aktualität unterstreichen, freut mich ganz besonders. Meist wird zur Einstiegslektüre ja der Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ empfohlen. Ich habe da einen anderen Tipp: Die „Kritik der reinen Vernunft“, Seiten B454 – B457.[1] Die führten mich jedenfalls aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.
[1] B: Paginierung der zweiten Auflage, die sich in allen Ausgaben findet.