150 Jahre Albert Schweitzer
Am 14. Januar 1875 wurde Ludwig Philipp Albert Schweitzer in Kaysersberg bei Kolmar geboren. Der Deutsch-Franzose war nicht nur Arzt, Forscher, Philosoph und bekennender Pazifist, sondern auch evangelischer Theologe, der zudem als Organist und Musikwissenschaftler tätig war.
Auch wenn sich Schweitzer in erster Linie als Philosoph sah, befasst er sich dennoch sein ganzes Leben lang immer wieder mit theologischen Themen, unter anderem auch in Predigten. Auf dieser Seite finden Sie eine Predigt von Albert Schweitzer, die er 1919 in der Straßburger Kirche St. Nicolai hielt.
Der Predigt voran gestellt ist ein Kommentar des Direktors des Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Universität Münster, Prof. Dr. Arnulf von Scheliha, den wir mit freundlicher Genehmigung des Autors hier veröffentlichen.
Albert Schweitzer, Ehrfurcht vor dem Leben (Predigt über Röm 14,7)
Kommentar von Prof. Dr. Arnulf von Scheliha
In der hier abgedruckten Predigt entfaltet der berühmte Theologe, Philosoph und Mediziner Albert Schweitzer (1875-1965) erstmals in einer Predigt die Grundzüge seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Bei dieser Predigt handelt es sich um die zweite im Rahmen einer sechzehn Predigten umfassenden Reihe über ethische Probleme, die Schweitzer zwischen Februar und Oktober 1919 in der Kirche St. Nicolai in Straßburg gehalten hat. Vierzehn dieser Predigten sind in dem von Richard Brüllmann und Erich Gräßer herausgegebenen Band Albert Schweitzer, Predigten 1898-1948, München: Verlag C.H. Beck, 2001 dokumentiert. Der hier abgedruckte Text ist den Seiten 1239-1245 dieser Ausgabe entnommen.
Biographisch fällt diese Predigtreihe in die Interimszeit zwischen Schweitzers erster und zweiter Zeit in Afrika, wo er seit 1913 in dem am Fluss Ogooué gelegenen Ort Lambaréné ein Krankenhaus betrieb. Albert Schweitzer, der aus einem evangelischen Pfarrhaus stammt, studierte seit 1893 Theologie und Philosophie in Straßburg, Paris und Berlin. Dort wurde er auf Grund einer Arbeit über „Die Religionsphilosophie Immanuel Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ 1899 zum Dr. phil. promoviert. Ein Jahr später folgte die Promotion zum Lic. theol. in Straßburg mit einer Dissertation zum Thema „Das Abendmahlproblem auf Grund der wissenschaftlichen Forschung des 19. Jahrhunderts und der historischen Berichte“. 1901 habilitierte er sich im Fach Neues Testament mit der Arbeit „Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis. Eine Skizze des Lebens Jesu“. Seit 1902 wirkte er als Privatdozent für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Straßburg. Im gleichen Jahr wurde er Vikar an St. Nicolai in Straßburg. Einem Gelübde folgend, das ihn ab dem dreißigsten Lebensjahr zum praktischen Dienst an den Menschen verpflichtete, nahm er 1905 ein Medizinstudium auf, das er 1913 mit einer Dissertation zum Thema „Die psychiatrische Beurteilung Jesu. Darstellung und Kritik“ abschloss. Anschließend gab er seine Lehr- und Predigttätigkeit in Straßburg auf, heiratete die gelernte Krankenschwester Helene Breßlau (1879-1957) und gründete nach tropenmedizinischer Zusatzausbildung das Hospital in Lambaréné in Äquatorialafrika, im heutigen Gabun. Während des Ersten Weltkrieges wurde er 1914 unter Hausarrest gestellt und 1917/18 in Südfrankreich interniert. Nach Kriegsende kehrte er ins Elsaß zurück, das nach den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages wieder an Frankreich fiel. Schweitzer wurde französischer Staatsbürger, nahm die Stelle als Vikar an St. Nicolai wieder an und wirkte als Assistenzarzt an einem Straßburger Krankenhaus. In dieser Zeit erscheinen auch die beiden Bände, in denen Schweitzer sein philosophisches und ethisches Programm begründet und entfaltet: „Kulturphilosophie“ und „Kultur und Ethik“ (1923). Zudem sammelt er durch ausgedehnte Vortragsreisen und Orgelkonzerte Spenden für sein Krankenhausprojekt. 1924 ging Schweitzer nach Lambaréné zurück, um das Krankenhaus wieder aufzubauen und seinen medizinischen Dienst fortzusetzen. Für das Jahr 1919, aus dem die hier abgedruckte Predigt stammt, sind insgesamt neunzehn Predigten überliefert. Von mindestens zwei weiteren aus diesem Jahr existieren Skizzen und Notizen.
Ästhetisches Gespür für den Gottesdienst
Albert Schweitzer hat trotz seines beruflichen Wechsels vom theologischen Gelehrten zum praktischen Arzt Zeit seines Lebens Gottesdienste und Andachten gehalten, in deren Mittelpunkt seine Predigten standen. Gottesdienst und Predigt standen für ihn seit seiner Jugend im Zentrum seines religiösen Lebens. Als studierter Musikwissenschaftler und Organist hatte er überdies ein ausgeprägtes ästhetisches Gespür für einen durchgestalteten Gottesdienst, in dem Musik, Choräle, Gebete, Lesungen und Predigten fein aufeinander abgestimmt waren. Wichtig war ihm der Kirchraum, dessen Ausstattung zur Andacht einladen sollte. Auch in Lambaréné hat Schweitzer stets Gottesdienste sowie täglich Andachten für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehalten. Von ihnen sind nur wenige Mitschriften erhalten. Schweitzer war auch ein nachgefragter Kasualredner. Sein berühmtestes Brautpaar waren wohl Elly Heuss-Knapp und der nachmalige Bundespräsident Theodor Heuss, die Schweitzer 1908 in der Straßburger Wilhelmer Kirche getraut hat.
Die hier abgedruckte Predigt ist trotz ihrer Einbettung in eine thematische Predigtreihe ein gutes Beispiel für Schweitzers Art zu predigen. Ausgangspunkt ist der kurze Predigttext, der Schweitzer ausgesucht hat und der Predigt voranstellt. Schweitzer gehört zu denjenigen Predigern, die sich regelmäßig nicht an die Texte der von der Kirche vorgeschriebenen Perikopen-Ordnung halten, sondern die Predigt von vornherein thematisch konzipieren und einen dazu passenden, oft kurzen Bibeltext frei auswählen. Diese Abweichung von den kirchlichen Vorgaben hat Schweitzer gelegentlich Tadel von ihm vorgesetzten leitenden Geistlichen eingetragen.
Dass Schweitzer dieser Predigt ein kurzes Wort aus dem Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom voranstellt, ist ebenfalls kein Zufall. Schweitzer hat nur selten über Texte aus dem Alten Testament gepredigt. Von seiner fachlichen Ausrichtung war er ohnehin den Texten des Neuen Testamentes zugeneigt. Entscheidend aber dürfte sein, dass er seine ethische Konzeption, die er ausdrücklich als vernünftige Ethik begründet und ausweist, über die sittlichen Weisungen Jesu an die ethische Tradition des Christentums angebunden wissen wollte. Das Vorbild Jesu und die Nachfolge, die Schweitzer sich als Einigung des eigenen Willens mit dem Willen Jesu vorstellte, bildet gewissermaßen die christliche Variante jenes allgemeinen Humanitätsideals einer Ehrfurcht vor dem Leben und ist zugleich kulturelles Vehikel seiner Umsetzung. Diese Figur erinnert an Grundeinsichten Kants zum Verhältnis von vernünftiger Sittlichkeit und geschichtlicher Religion.
Ehrfurcht vor dem Leben
In der ersten Predigt der Predigtreihe hatte Schweitzer am 16. Februar 1919 im Anschluss an Mk 12,28-34 das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe als die grundlegende Weisung Jesu entfaltet. Daran knüpft nun die hier abgedruckte Predigt inhaltlich an, in der er dieses Gebot auf alle Kreaturen ausweitet, seinen Leitbegriff, die Ehrfurcht vor dem Leben, einführt und in dieser Predigt erstmals entfaltet. Auch in der Form ist diese Predigt ein repräsentatives Beispiel für Schweitzers Predigtweise. Er strukturiert seine religiöse Rede klar, er spricht in kurzen Sätzen, nie sind die Predigten lang. Die von ihm – auch in dieser Predigt – immer wieder beschworene Einheit von Herz und Vernunft zeigt sich in der geglückten Kombination aus klarer Gedankenführung und erbaulicher, bilderreicher Sprache. Der Gefahr, dass sich eine thematisch fokussierte Predigt in eine philosophische Abhandlung verwandelt, begegnet Schweitzer dadurch, dass er immer wieder auf die Dimension der subjektiven Aneignung eingeht. Er spricht die Gefühle an, thematisiert innere Ambivalenzen und kommt auf die Hindernisse zu sprechen, die sich dem sittlichen Bewusstsein entgegenstellen. Auf diese Weise wird in der Predigt die Reflexionsbewegung des vor Gottes Willen stehenden „Ich“ exemplarisch durchsichtig gemacht und der Weg zum Guten geebnet. Trotz vieler eindringlicher Appelle wird Schweitzers Predigtsprache niemals aufdringlich. Die wenigen Beispiele, die er gibt, vereinnahmen die Hörerinnen und Hörer nicht, sondern vertiefen das Thema, ohne zu moralisieren oder die Spielräume für eigene Gedanken einzuschränken.
Trotz des gewissen Pathos, das der Sprache der damaligen Zeit ebenso wie Schweitzers Persönlichkeit geschuldet ist, wirken die Predigten Schweitzers auch für heutige Leser durchaus modern. Hauptgrund dafür ist, dass Schweitzer die elementaren religiösen und sittlichen Wahrheiten ungekünstelt anspricht und als solche wirken lässt. Seine Predigten sind frei von Effekten. Zeitgeschichtliche Anspielungen, die das heutige Verstehen behindern würden, finden sich kaum. Schweitzers Ziel der ethischen Sensibilisierung und religiösen Vertiefung erreichen seine Predigten auch bei der heutigen Leserschaft.
Morgenpredigt Sonntag, 23. Februar 1919, St. Nicolai
2. Predigt über ethische Probleme
von Albert Schweitzer
Röm. 14,7: Denn unser keiner lebt sich selber
Die Probleme der Sittlichkeit sollten uns, so sagte ich vergangenen Sonntag, in unsern nächsten Andachten beschäftigen.
Im Anschluss an die Frage nach dem größten Gebot des Alten Testamentes, die Jesus dem fragenden Schriftgelehrten beantwortet, indem er ihm zwei Gebote ‒ das Gebot der Liebe zu Gott und das Gebot der Liebe zum Nächsten ‒ zusammenstellt, warfen wir die Frage nach dem Wesen des Sittlichen, nach dem letzten Grundprinzip der Moralität auf. Wir wollten uns nicht bei dem hergebrachten Bescheide, dass das Wesen des Sittlichen in der Liebe bestehe, begnügen, sondern gingen weiter und fragten: Was ist denn die Liebe? Was ist die Liebe zu Gott, die uns zwingt, gegen die Menschen gut zu sein? Was ist die Liebe gegen den Nächsten?
Und wir befragten nicht nur das Herz, sondern auch die Vernunft über das Sittliche, weil wir die Schwäche unserer Zeit darin sehen, dass es ihr an einer vernünftigen, durch keine Vorurteile und durch keine Leidenschaften zu zerstörenden Sittlichkeit fehlt, und weil wir überhaupt nicht annehmen können, dass Vernunft und Herz so ohne Berührung nebeneinander hergehen. Das wahre Herz überlegt, und die wahre Vernunft empfindet. Wir fanden, dass beide, Herz und Vernunft, darin übereinstimmen, dass das Gute im letzten Grunde in der elementaren Ehrfurcht vor dem Rätselhaften, das wir Leben nennen, besteht, in der Ehrfurcht vor allen seinen Erscheinungen, den kleinsten wie den größten. Gut ist: Leben erhalten und fördern; schlecht ist: Leben hemmen und zerstören.
Ehrfurcht vor dem Leben
Sittlich sind wir, wenn wir aus unserem Eigensein heraustreten, die Fremdheit den andern Wesen gegenüber ablegen und alles, was sich von ihrem Erleben um uns abspielt, miterleben und miterleiden. In dieser Eigenschaft erst sind wir wahrhaft Menschen; in ihr besitzen wir eine eigene, unverlierbare, fort und fort entwickelbare, sicher orientierte Sittlichkeit.
Diese allgemeinen Ausdrücke „Ehrfurcht vor dem Leben“, „Aufgeben des Fremdseins“, „Drang nach Erhaltung des Lebens um uns herum“, klingen kalt und nüchtern. Aber wenn es auch unscheinbare Worte sind, können sie doch reich sein. Das Samenkorn ist auch unscheinbar, und doch trägt es das Gebilde, das aus ihm hervorwächst, in sich. So liegt in diesen unscheinbaren Worten die Grundanschauung beschlossen, aus der sich die ganze Sittlichkeit entwickelt, ob dies den einzelnen bewusst ist oder nicht.
Voraussetzung der Sittlichkeit ist also, dass wir alles, was nicht nur die Menschen, sondern überhaupt alle Wesen um uns herum erleben, miterleben und dadurch gezwungen werden, alles, was wir zur Erhaltung und Förderung des Lebens tun können, zu tun.
Gut bleiben heißt wach bleiben
Der große Feind der Sittlichkeit ist die Abstumpfung. Als Kinder hatten wir, soweit unser Verständnis für die Dinge ging, eine elementare Fähigkeit des Mitleidens. Aber diese Fähigkeit ist mit den Jahren und mit dem zunehmenden Verständnis nicht gewachsen. Sie war uns etwas Unbequemes, Verwirrendes. Wir sahen so viele Menschen, die sie nicht mehr besaßen. Dann drängten auch wir die Empfindsamkeit zurück, um zu werden wie die andern, um nicht anders zu sein als sie, und weil wir uns nicht Rat wussten. So werden die vielen Menschen wie Häuser, bei denen sich ein Laden nach dem andern schließt, und die dann kalt und fremd in die Straße hineinschauen.
Gut bleiben heißt wach bleiben! Wir gleichen alle dem Menschen, der draußen in der Kälte und im Schnee geht. Wehe ihm, wenn er sich hinsetzt, um der Ermattung nachzugeben und zu schlafen: Er wird nicht mehr erwachen. So erstirbt der sittliche Mensch in uns, wenn wir es müde werden, was die andern Wesen um uns herum erleben, mitzuerleben, mit ihnen zu leiden. Wehe uns, wenn unsere Empfindsamkeit sich abstumpft: Unser Gewissen, das Gewissen im weitesten Sinne, das heißt das Bewusstsein von dem, was wir sollen, geht damit zugrunde.
Die Natur kennt keine Ehrfurcht vor dem Leben
Die Ehrfurcht vor dem Leben und das Miterleben des andern Lebens ist das große Ereignis für uns und das große Ereignis für die Welt. Die Natur kennt keine Ehrfurcht vor dem Leben. Sie bringt tausendfältig Leben hervor in der sinnvollsten Weise und zerstört es tausendfältig in der sinnlosesten Weise. Durch alle Stufen des Lebens hindurch bis in die Sphäre des Menschen hinan ist furchtbare Unwissenheit über die Wesen ausgegossen. Sie haben nur den Willen zum Leben, aber nicht die Fähigkeit des Miterlebens, was in anderen Wesen vorgeht; sie leiden, aber sie können nicht mitleiden. Der große Wille zum Leben, der die Natur erhält, ist in rätselhafter Selbstentzweiung mit sich selbst.
Die Wesen leben auf Kosten des Lebens anderer Wesen. Die Natur lässt sie die furchtbarsten Grausamkeiten begehen. Sie leitet Insekten durch Instinkt an, mit ihrem Stachel Insekten anzubohren und ihre Eier in sie hineinzulegen, dass das, was sich aus dem Ei entwickelt, von der Raupe leben und sie damit zu Tode quälen soll. Sie leitet die Ameisen an, sich zusammenzutun und ein armes kleines Wesen anzufallen, um es zu Tode zu hetzen. Schaue der Spinne zu! Wie grauenvoll ist das Handwerk, das sie die Natur gelehrt!
Die Natur ist schön und großartig, von außen betrachtet, aber in ihrem Buche zu lesen, ist schaurig. Und ihre Grausamkeit ist so sinnlos! Das kostbarste Leben wird dem niedersten geopfert. Einmal atmet ein Kind Tuberkelbazillen ein. Es wächst heran, gedeiht, aber Leiden und früher Tod sitzen in ihm, weil diese niedersten Wesen sich in seinen edelsten Organen vermehren. Wie oft packte mich in Afrika das Entsetzen, wenn ich das Blut der Schlafkranken untersuchte. Warum saß der Mann mit Leiden verzerrtem Gesicht da und stöhnte: Oh, mein Kopf, mein Kopf! Warum musste er Nächte hindurch weinen und elend sterben? Weil da, unter dem Mikroskop, feine, kleine, blasse Körperchen, zehn- bis vierzehntausendstel Millimeter lang, vorhanden waren ‒ oh, nicht viele, oft nur ganz wenige, so dass man zuweilen Stunden suchen musste, um nur eines zu entdecken!
Leben gegen Leben
So steht durch die rätselhafte Entzweiung in dem Willen zum Leben Leben gegen Leben und schafft dem andern Leiden und Tod, schuldlos schuldig. Die Natur lehrt grausigen Egoismus, nur dadurch auf kurze Zeit unterbrochen, dass sie in die Wesen den Trieb gelegt hat, dem Leben, das von ihnen abstammt, solange es ihrer bedarf, Liebe und Helfen entgegenzubringen. Aber dass das Tier seine Jungen mit Selbstaufopferung bis zum Tode liebt, also hier mitfühlen kann, macht es nur noch schrecklicher, dass ihm das Mitleiden für die Wesen, die nicht in
dieser Weise mit ihm zusammengehören, versagt ist.
Die Welt, dem unwissenden Egoismus überantwortet, ist wie ein Tal, das im Finstern liegt; nur oben auf den Höhen liegt Helligkeit. Alle müssen in dem Dunkel leben; nur eines darf hinauf, das Licht schauen: das höchste, der Mensch. Er darf zur Erkenntnis der Ehrfurcht vor dem Leben gelangen, er darf zu der Erkenntnis des Miterlebens und Mitleidens gelangen, aus der Unwissenheit heraustreten, in der die übrige Kreatur schmachtet.
Und diese Erkenntnis ist das große Ereignis in der Entwicklung des Seins. Hier erscheinen die Wahrheit und das Gute in der Welt, das Licht glänzt über dem Dunkel, der tiefste Begriff des Lebens ist erreicht: Das Leben, das zugleich Miterleben ist, wo in einer Existenz der Wellenschlag der ganzen Welt gefühlt wird, in einer Existenz das Leben als solches zum Bewusstsein seiner selbst kommt – das Einzeldasein aufhört, das Dasein außer uns in das unsrige hereinflutet.
Erkenntnis und Rätsel
Wir leben in der Welt und die Welt lebt in uns. Um diese Erkenntnis selbst die Rätsel sich türmen. Warum gehen Naturgesetz und Sittengesetz so auseinander? Warum kann unsere Vernunft nicht einfach übernehmen und fortbilden, was ihr als Äußerung des Lebens in der Natur entgegentritt, sondern muss mit ihrem Erkennen in einen so ungeheuren Gegensatz zu allem, was sie sieht, kommen? Warum muss sie ganz andere Gesetze in sich entdecken als die, die die Welt regieren? Warum muss sie mit der Welt zerfallen, wo sie den Begriff des Guten erreicht? Warum müssen wir diesen Widerstreit erleben ohne Hoffnung, ihn jemals ausgleichen zu können? Warum statt der Harmonie die Zerrissenheit?
Und weiter. Gott ist die Kraft, die alles erhält. Warum ist der Gott, der sich in der Natur offenbart, die Verneinung von allem, was wir als sittlich empfinden, sinnvoll Leben aufbauende und sinnlos Leben zerstörende Kraft? Wie bringen wir Gott, die Naturkraft, in eins mit Gott, dem sittlichen Willen, dem Gott der Liebe, wie wir ihn uns vorstellen müssen, wenn wir uns zum höheren Wissen vom Leben, zur Ehrfurcht vor dem Leben, zum Miterleben und Mitleiden erhoben haben?
Unlösbare Gegensätze
Als wir vor einigen Sonntagen miteinander über optimistische und pessimistische Weltanschauung ins Klare zu kommen suchten, sagte ich euch, dass es ein großes Unglück für unsere Menschheit sei, dass man ihr keine geschlossene, in sich einfach gefügte Weltanschauung bieten könne, weil das Wissen, je weiter es fortschreitet, uns immer mehr von einer solchen abführt. Und dies nicht nur, weil immer deutlicher wird, wie wenig wir eigentlich im Wissen erfassen können, sondern auch weil dies Widerspruchsvolle im Sein sich immer tiefer auftut. „Unser Wissen ist Stückwerk“, sagt der Apostel Paulus [I Kor. 13,9]. Damit ist viel zu wenig gesagt. Noch schwerer ist, dass unser Wissen eine Einsicht in unlösbare Gegensätze bedeutet ‒ alle zurückgehend auf den einen, dass das Gesetz, nach dem sich das Geschehen in der Welt vollzieht, nichts von dem an sich hat, was wir als sittlich erkennen und empfinden.
Statt unsere Sittlichkeit in einer geschlossenen Weltanschauung und in einem einheitlichen Gottesbegriff festigen zu können, müssen wir sie immer gegen die Widersprüche aus der Weltanschauung schützen, die wie eine vernichtende Brandung gegen sie heranströmen. Wir müssen einen Damm aufführen ... und wird er halten?
Das andere, was die Fähigkeit und den Willen zum Miterleben bedroht, ist die sich immer wieder aufdrängende Überlegung: Es nützt ja nichts! Was du tust und kannst, um Leiden zu verhüten, um Leiden zu mildern, um Leben zu erhalten, ist ja doch nichts im Vergleich mit dem, was geschieht auf der Welt um dich herum, ohne dass du etwas dazu tun kannst.
Gewiss, es ist furchtbar, sich vorstellen zu müssen, in wie vielem wir ohnmächtig sind, ja, wie viel Leid wir selbst andern Wesen schaffen, ohne es verhindern zu können. Du gehst auf einem Waldpfad; die Sonne scheint in hellen Flecken durch die Wipfel hindurch; die Vögel singen; tausend Insekten summen froh in der Luft. Aber dein Weg, ohne dass du etwas dafür kannst, ist Tod. Da quält sich eine Ameise, die du zertreten, dort ein Käferchen, das du zerquetscht, dort windet sich ein Wurm, über den dein Fuß gegangen. In das herrliche Lied vom Leben klingt die Melodie von Weh und Tod, die von dir, dem unschuldig Schuldigen kommen, hinein. Und so fühlst du in allem, was du Gutes tun willst, die furchtbare Ohnmacht, zu helfen, wie du wolltest. Dann kommt die Stimme des Versuchers und sagt dir: Warum dich denn quälen? Es hilft nichts. Gib es auf, werde gleichgültig, werde gedankenlos und gefühllos wie die andern.
Mitleiden heißt leiden
Noch eine andere Versuchung tritt auf. Mitleiden heißt leiden. Wer einmal das Weh der Welt in sich erlebt, der kann nicht mehr glücklich werden in dem Sinne, wie der Mensch es möchte. In den Stunden, die ihm Zufriedenheit und Freude bringen, ist er nicht imstande, sich unbefangen dem Behagen hinzugeben, sondern das Weh, das er miterlebt, ist da. Er hat gegenwärtig, was er geschaut. Er gedenkt des Armen, den er angetroffen, des Kranken, den er geschaut, des Menschen, von dessen schwerem Schicksal er gelesen ... und Dunkel fällt in die Helligkeit seiner Freude. Und so fort und fort.
In der fröhlichsten Gesellschaft ist er plötzlich geistesabwesend. Und da sagt der Versucher wieder: So kann man nicht leben. Man muss absehen können von dem, was um einen vorgeht. Nur keine so große Empfindsamkeit. Erziehe dich zur notwendigen Gefühllosigkeit, leg einen Panzer an, werde gedankenlos wie die andern, wenn du vernünftig leben willst. Zuletzt kommen wir dann so weit, dass wir uns schämen, das große Miterleben und das große Mitleiden zu kennen. Wir verheimlichen es voreinander und tun, als wäre es uns etwas Törichtes, so etwas, das man ablegt, wenn man anfängt, ein vernünftiger Mensch zu werden.
Drei große Versuchungen
Dies sind die drei großen Versuchungen, die uns unversehens die Voraussetzung, aus der das Gute kommt, zugrunde richten. Seid wachsam gegen sie.
Der ersten begegne, indem du dir sagst, dass Mitleiden und Mithelfen für dich eine innere Notwendigkeit ist. Alles, was du tun kannst, wird in Anschauung dessen, was getan werden sollte, immer nur ein Tropfen statt eines Stromes sein; aber es gibt deinem Leben den einzigen Sinn, den es haben kann, und macht es wertvoll. Wo du bist, soll, soviel an dir ist, Erlösung sein, Erlösung von dem Elend, das der in sich selbst entzweite Wille zum Leben in die Welt gebracht hat, Erlösung, wie sie nur der wissende Mensch bringen kann. Das Wenige, das du tun kannst, ist viel ... wenn du nur irgendwo Schmerz und Weh und Angst von einem Wesen nimmst, sei es Mensch, sei es irgendeine Kreatur. Leben erhalten ist das einzige Glück.
Der anderen Versuchung, dass das Miterleben dessen, was um dich vorgeht, Leiden für dich ist, begegne dadurch, dass du dir bewusst wirst, dass mit dem Mitleiden zugleich die Fähigkeit des Mitfreuens gegeben ist. Mit der Abstumpfung gegen das Mitleiden verlierst du zugleich das Miterleben des Glückes der andern. Und so wenig das Glück ist, das wir in der Welt erschauen, so ist doch das Miterleben des Glückes um uns herum mit dem Guten, das wir selbst schaffen können, das einzige Glück, welches uns das Leben erträglich macht.
Und zuletzt hast du gar nicht das Recht, zu sagen: Ich will so sein oder so, weil du meinst, dass du so glücklicher bist als anders, sondern du musst sein, wie du sein musst: wahrer, wissender Mensch, Mensch, der mit der Welt lebt, Mensch, der die Welt in sich erlebt. Ob du damit nach der gewöhnlichen Auffassung glücklicher bist oder nicht, ist gleichgültig. Nicht das Glücklichsein, sondern das Gutsein verlangt die geheimnisvolle Stimme in uns ... ihr zu gehorchen, ist das Einzige, was befriedigen kann.
Nicht abstumpfen, sondern wach bleiben
So sage ich euch: Lasst euch nicht abstumpfen, bleibt wach! Es geht um eure Seele. Wenn ich in diesen Worten, in denen ich das Innerste meiner Gedanken preisgebe, euch, die ihr jetzt hier seid, zwingen könnte, dass ihr den Trug, mit dem uns die Welt einschläfern will, zerreißt, dass keiner von euch mehr gedankenlos sein kann, dass ihr nicht mehr davon loskommt, die Ehrfurcht vor dem Leben und das große Miterleben kennen lernen zu müssen, euch darin zu verlieren: Dann wäre ich zufrieden und würde meine Tätigkeit als gesegnet ansehen, auch wenn ich wüsste, dass mir morgen das Predigen verboten wird oder dass ich mit meinem Predigen bisher nichts ausgerichtet und hinfort nichts anderes mehr ausrichten könnte.
Ich, der ich sonst wie eine Angst habe, Einfluss auf Menschen auszuüben, wegen der Verantwortung, die man dabei übernimmt, möchte Gewalt besitzen, euch zu verzaubern, dass ihr mitfühlend werdet, bis jeder von euch den großen Schmerz erlebt, von dem man nicht mehr loskommt, wissend werdet im Mitleiden; denn ich dürfte mir dann sagen, dass ihr auf dem Weg zum Guten seid und ihn nicht mehr verlieren könnt.
Die Veröffentlichung aus der Publikation „Große Predigten - 2000 Jahre Gottes Wort und christlicher Protest“ von Johann Hinrich Claussen (ISBN: 978-3-650-40071-0, Lambert Schneider in der Verlag Herder GmbH, 1. Auflage 2015) erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Breisgau.