Vielleicht gehören Sie auch zu den 60 Prozent der deutschen Urlauber, die ihre Ferien am liebsten am Meer verbringen. Dann sind Sie mit natürlichen Gegensätzen vertraut: mit Ebbe und Flut, Sonne und Regen, Flaute und Sturm, Fernsicht und dichtem Nebel. Und trotzdem kann man hin und wieder überrascht werden. Ich werde nie einen Spaziergang in der Tümlauer Bucht vergessen, zu dem meine Frau und ich von St. Peter-Ording aus bei schönstem Sonnenschein und, natürlich, bei Ebbe starteten. Wir ließen gerade unsere Beine in den Priel baumeln, als plötzlich vom Meer her ein dichter Nebel aufkam und wir innerhalb weniger Minuten die Orientierung verloren. Handys gab es schon, aber kein Empfang dort draußen. Seltsamerweise wurde es inmitten des Nebels auch so still, dass wir die Brandung nicht mehr hören und orten konnten. Nur eines sahen wir deutlich: Das Wasser stieg. Wir liefen mal nach rechts, mal nach links – die Angst lähmte unser Denken. Nach einer gefühlten Ewigkeit nahmen wir schemenhaft andere Spaziergänger im Nebel wahr und folgten ihnen. Bald danach erreichten wir erleichtert den sicheren Deich.
Wir haben daraus gelernt: Auch das freundlichste Urlaubswetter kann augenblicklich in eine lebensbedrohliche Situation umschlagen. Anders gesagt: Mitten in den Alltag kann unerwartet etwas Existenzielles hereinbrechen, das die Grenzen unserer Erfahrung sprengt. Das kann etwas Beängstigendes sein, wie in unserem Fall, es kann aber auch etwas unbeschreiblich Schönes sein. Von einem solchen „Urlaubs“-Erlebnis berichtet die biblische Geschichte über die Verklärung Jesu, die in Markus 9 am dichtesten erzählt wird.
Jesus nimmt drei seiner Jünger mit auf einen Berg – die gleichen Jünger, die ihn in seiner schwersten Nacht zum Garten Getsemani begleiten werden. Sie freuen sich, dass sie endlich mal mit dem Meister alleine sind. In der Höhe spüren sie plötzlich eine Veränderung. Was sie sehen, wirkt wie angestrahlt von einem Schein aus einer anderen Welt. Ein Lichtblick aus der Ewigkeit. Eine Klarheit, die alle Grenzen transparent macht – auch die zwischen Leben und Tod. Mose und Elija stehen plötzlich neben Jesus, die großen Propheten aus der Frühzeit Israels. Alle Beschränkungen sind aufgehoben, alles scheint möglich. Die Jünger sind erst erschrocken, dann begeistert. Das ist er: der „one moment in time“. Lass uns Hütten bauen, ruft Petrus. Augenblick, verweile doch, du bist so schön!
Doch Gotteserfahrungen kann man nicht festhalten, sie entstehen in der Spannung von Andeutung und Entzug. Nebel kommt auf – und die Erscheinungen, die Offenbarung des Göttlichen verschwinden. Was den Jüngern bleibt, ist die Erinnerung an ein unfassbar schönes Erlebnis und das Wort: „Das ist mein lieber Sohn; den sollt ihr hören.“ (Es heißt nicht: „Den sollt ihr sehen“!) Das verändert die Jünger. Sie wissen nun, wer Jesus wirklich ist. Sie gehen als Verwandelte vom Berg herunter.
Den Berg der Verklärung gibt es für jede:n von uns. Er ist für jeden anderswo, aber es gibt ihn. Es ist der Ort, an dem die Grenzen unserer gewohnten Erfahrung durchlässig und neue Türen aufgestoßen werden. Wo wir aus dem Trott unseres Alltags aufbrechen und nach dem Anderen, nach Kontrasten suchen, da könnten wir den Fuß des Berges entdecken.
Der Urlaub bietet sich dafür besonders an – wir befinden uns in einem anderen Rhythmus, an einem anderen Ort mit einem anderen Klima. Aber das können wir auch in den übrigen Wochen des Jahres. In den Zehn Geboten heißt es: Gedenke des Ruhetags, um ihn zu heiligen. Das heißt: Nimm dir einen Tag in der Woche, an dem du dich absonderst von dem, was du sonst tust. Wenn du immer auf einen 30 Zentimeter entfernten Monitor starren musst, gönne dir Fernsicht. Wenn du den ganzen Tag sitzend verbringen musst, verwöhne deinen Körper mit Bewegung. Wenn du dauernd reden musst, genieße die Stille. Und wenn du deinen Alltag als trübe und grau empfindest, lasse Musik an deine Ohren und lasse deine Augen neue Farbwelten entdecken. Urlaub und Ruhetage – das sind unsere Chancen, ein Leben im Konjunktiv zu führen: So könnte es auch sein, so verwandelt, so berührt, so verklärt vom Glanz des Göttlichen wie die drei Jünger auf dem Berg, könnte ich auch sein.
Natürlich ist nicht jedes Kontrasterlebnis gleich ein Verklärungserlebnis. Aber nur wenn wir uns Kontraste schaffen, entstehen Reibungsflächen. Und an Reibungsflächen kann sich ein Funke entzünden, ein Funke der Begeisterung, ein Geistesblitz, ein Wirken des Heiligen Geistes. Dann unterbricht das Ganz Andere das ganz Normale. Der biblische Gott zeigt sich immer in unerwarteten Kontrasten. Dem durch die Wüste wandernden Volk Israel geht er tagsüber als Wolkensäule, nachts als Feuersäule voran. Im Neuen Testament offenbart er sich da, wo es niemand vermutet hat: am Kreuz, dem Ort der von Gott Verfluchten.
Jedes Unterbrechen kann auch ein Aufbrechen sein. Dann entdecken wir vielleicht, dass unser Leben noch viel mehr sein kann als das, was wir gerade daraus machen. Oder wir finden zu einem inneren Gleichgewicht, das uns Stärke gibt inmitten aller Sorgen und eine neue Lust auf den Alltag. Aus der dahinfließenden, verrinnenden Zeit wird erfüllte Zeit. Genau das ist Jesu Botschaft: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes herbeigekommen.“ Alles, was wir dafür brauchen, ist der Mut, uns verwandeln zu lassen.
OKR Dr. Dr. Frank Hofmann