„Wenige Wochen nach Kriegsbeginn haben die Russen uns von aller Versorgung abgeschnitten.“
Die Frau aus Cherson sagt immer nur einen Satz, damit die Übersetzerin mitkommt.
„Nach ein paar Tagen wurden die Lebensmittel knapp. Kein Strom, kein Internet, kein Funknetz. Dann sind die Russen ins Dorf gekommen.“
Jeder Satz hallt nach in unseren Ohren, ruft Bilder und Gefühle auf.
„Sie haben alle überprüft, ob sie gekämpft haben. Es war schrecklich. Dann haben sie Nahrungsmittel angeboten. Aus Russland, zu völlig überzogenen Preisen. Schließlich haben wir unsere Sachen gepackt und sind weg.“
Wir sitzen auf den Holzbänken im evangelisch-lutherischen Kirchlein von Petrodolynske, eine Autostunde westlich von Odessa. Das kleine Gotteshaus steht auf einem weitläufigen Grundstück mit Zier- und Nutzgarten, mit Spielplatz und großer Rasenfläche zum Spielen und Feiern. Das Nebenhaus gehört dazu, hier sind die Frau aus Cherson, ihre Kinder und deren Freundinnen untergebracht. Die Tochter, die ein T-Shirt mit dem Aufdruck „I miss you like crazy“ trägt, nickt heftig mit dem Kopf, als wir fragen, ob sie denn Kontakt zur Restfamilie und zu Freunden in Cherson halten. Hier haben sie Internet und können online beschult werden. Hier sind sie vergleichsweise sicher. Es gibt zwar keine Luftschutzkeller, aber „die Bevölkerung auf dem Land ist den Russen keine Rakete wert“. Sagt Alexander Gross, Pfarrer in Petrodolynske und an der größten lutherischen Kirche in der Ukraine, St. Paul in Odessa.
Seit Kriegsbeginn hat er über 30 Prozent seiner Gemeindeglieder verloren. Seitdem ist er unentwegt im Einsatz. Stellt Unterkünfte für die geflüchteten Rumpffamilien aus den stark umkämpften Gebieten zur Verfügung, macht seine Kirchen mit Notstromaggregaten autark, organisiert Verpflegung und Medizin für alte, behinderte und kranke Menschen. Im Keller seines Wohnhauses unterrichtet seine Frau am Nachmittag die Kinder, um die sich ansonsten keiner kümmert. Die Schule schickt sie vorbei, weil man mit ihnen nicht zurechtkommt. Bei den oft vom Krieg traumatisierten Eltern werden sie nicht betreut, nicht regelmäßig verpflegt und gewaschen.
Dass Kirche ein Sozialraum ist, müssen die Geistlichen hier nicht lernen. Und je weniger Gemeinden es in der Ukraine gibt – die Russen haben im Land mehr als 400 religiöse Gebäude zerstört –, umso wertvoller ist jede einzelne. Eine Einsicht, die auch dem Land ein Trost sein könnte, in dem die Austrittszahlen um 30 Prozent gestiegen sind. (Odessa, 24. Marz 2023)
OKR Dr. Dr. Frank Hofmann