Die Tochter wünschte sich bei der Urlaubsplanung eine Inselwoche. Auf der Insel, mit der sie bereits verschwommene, aber grundsätzlich sehr positive Erinnerungen verbindet: die so genannte Düne, eine Nebeninsel von Helgoland. Wie Sie vielleicht wissen, gibt es dort außer Natur und einer in die Jahre gekommenen Minigolf-Anlage keine nennenswerten Attraktionen. Übrigens auch kein Wlan. Also rüsteten wir uns mit Urlaubslektüre. Ich wählte einen Krimi und die neuste lutherische Dogmatik „Symbole des Christentums“ von Ulrich Barth.
Bevor Sie mich für verrückt erklären: Diese Dogmatik ist die Mitschrift einer Vorlesung und deshalb außerordentlich gut lesbar. Facettenreich, manchmal sich in spannenden Abschweifungen verlierend, mitunter humorvoll und immer erfrischend klug. Barths Absicht ist es, die großen Themen der Dogmatik zu Symbolen zu verdichten und ihre Relevanz für die Gegenwart zu zeigen. Sein erstes Symbol ist die Schöpfungsgeschichte. Er interpretiert sie nicht kosmologisch, sondern wie Martin Luther im Kleinen Katechismus als erzählerische Ausgestaltung unserer Dankbarkeit für das Leben. Luther schrieb: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; … und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn all mein Verdienst und Würdigkeit: für all das ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.“
„Samt allen Kreaturen“: Diese Sentenz kommt mir in den Sinn, als wir von Helgoland auf die Düne übersetzen. An der Mole sitzen Dutzende von Kormoranen. Am Strand daneben liegt eine ganze Kolonie von Kegelrobben, drumherum Seehunde. Als wir die Tür zu unserem kleinen Holzbungalow aufschließen, spazieren fünf Enten auf die Terrasse und wie selbstverständlich durch die offene Tür hinein. Am nächsten Morgen bettelt eine junge Möwe um ihr Frühstück, danach ein Rotschenkel. Keine Frage: Wir sind hier unter unseren Mitgeschöpfen allenfalls geduldet – und doch so unendlich dankbar für die friedliche Koexistenz unter diesen kleinen Wunderwerken. So ähnlich muss sich der Homo sapiens sapiens gefühlt haben, als er sich vor 40.000 Jahren entwickelte und auf eine von Tieren bevölkerte Erde traf.
Als wir auf der Hauptinsel die Lummenfelsen besuchen, wird mir ein zweiter Aspekt aus Barths Schöpfungsinterpretation klar: Neben der Verdanktheit des Lebens geht es ihm auch um die Riskiertheit desselben. Der Theologe meint damit: Wir treffen alle Entscheidungen in unserem Leben unter Unsicherheit, mal mehr, mal weniger, nie können wir uns über die Folgen des Handelns ganz sicher sein. Erst recht nicht bei moralisch relevanten Fragen. Gibt es für riskante Entscheidungen ein drastischeres Bild als den Lummensprung? Die kleinen Küken des Meeresvogels stürzen sich nach dem Schlüpfen flugunfähig 40 Meter vom Felsen in die Tiefe. Sie folgen allein dem Ruf der Eltern, die sie im Meer besser versorgen können. Man möchte ihnen mit Luther hinterhersingen: „Nun freut euch und lass uns fröhlich springen, dass wir getrost und all in ein mit Lust und Liebe singen, was Gott an uns gewendet hat.“
Zurück auf der Düne zieht es uns zum „Friedhof der Namenlosen“ für jene unbekannten Toten, die rund um die beiden Inseln aus dem Meer geholt wurden. Dass die Endlichkeit des Lebens, so Barths dritter Aspekt der Schöpfungssymbolik, uns alle betrifft, wird hier dadurch besonders erfahrbar, dass jede:r Besucher:in einmal die Glocke läuten darf. Neben der Glocke ein Gedenkstein mit einem erfrischend unkitischigem Gedicht des Berliner Geheimrats Dr. Hesselbarth von 1903, das trotz seiner säkularer Provenienz am Ende so etwas wie Trost verspricht:
Ihr hattet euch dem Meer vertraut,
zur Heimat kehret ihr nimmer.
Um euch ist manches Haar ergraut,
verschollen seid ihr für immer.
Und floss auch keine Träne hier,
ertönte kein Trauergesang
stehen doch in stummen Schauern wir,
bedrückt ist das Herz und bang.
Doch ruht ihr.
Vielleicht wär herberes Los
euch sonst auf Erden beschieden.
Vom Meer umtost
in der Düne Schoß
ruht heimatlos,
aber in Frieden.
Ich weiß nicht, ob Ulrich Barth je auf Helgoland Düne war und dies gelesen hat. In jedem Fall passt es zu seiner Kritik an allzu schnellen Vertröstungen mit dem Tenor leichtfertiger Oster-Predigten und zu seinem Postulat: „Religion darf uns nicht irgendeine Idylle vorgaukeln, sondern sollte uns zu einer realistischeren Einstellung zum Leben drängen.“ Gut lutherisch: Das Evangelium gibt es nur mit dem Gesetz.
Schade, dass der Urlaub nicht für die zweite Hälfte des Buchs reichte.
Frank Hofmann