Ich habe Astronomie und Kosmologie studiert und verstand nun völlig, dass die Moleküle in meinem Körper, im Körper meiner Kollegen und im Raumschiff aus der Entstehung von Sternen herrührten. Und aus diesen Beschreibungen war deutlich: wir sind Sternenstaub. Und das war einfach überwältigend und mächtig.
(Edgar Mitchell, Apollo-14-Pilot und 6. Mensch auf dem Mond)
Ausgerechnet in der Weihnachtsausgabe der größten dänischen Tageszeitung „Jyllands Posten“ veröffentlichte der Kopenhagener Pastor Per Ramsdal seine Zweifel am christlichen Glauben: Wenn er auf Beerdigungen vom „Himmel“ und vom „ewigen Leben“ rede, dann sei das für ihn „so etwas wie eine Notlüge“. Er habe nun mal „Schwierigkeiten mit dem Übernatürlichen“. Prompt stimmten ihm drei weitere Pastoren zu – und in eilig durchgeführten Umfragen gab ein Drittel der dänischen Christen an, dass es ihnen genau so gehe.
Für einen religiös verstandenen „Himmel“ als Ort des Göttlichen ist im modernen Weltbild kein Platz, lautet ein gängiges Vorurteil. In vielen Predigten zu Himmelfahrt wird die Botschaft des Feiertages darauf reduziert, dass nun wir Menschen aufgefordert sind, das von Jesus begründete „Himmelreich“ in dieser Welt weiter wachsen zu lassen. Dagegen ist erst einmal wenig zu sagen: Wer will nicht lieber einen Himmel auf Erden als eine Vertröstung auf einen geheimnisvollen, jenseitigen Ort, der viel zu wenig greifbar ist, um im Alltag eine Rolle zu spielen?
Aber wenn die Idee von Christi Himmelfahrt so einfach aufzulösen ist, stellt sich die Frage, warum der Autor des Lukasevangeliums als einziger in der Bibel überhaupt von Jesu sichtbarem Verschwinden erzählt. Und das gleich zweimal: am Ende seines Evangeliums und am Anfang seiner Apostelgeschichte. Wäre es ihm nur um die Aufforderung gegangen, die Kernbotschaften von Jesu Lehre weiterzutragen, hätte er sich doch diese Episoden sparen können.
Der Verweis auf das antike Weltbild mit dem Himmel als Sitz der Götter hilft hier auch nicht weiter. Im ersten Jahrhundert nach Christus glaubte man nicht mehr, dass irgendjemand im sichtbaren Himmel sitzt. Wie die englische Sprache mit „sky“ und „heaven“ zwei Wörter für die beiden Bedeutungen von „Himmel“ kennt, hat auch schon die Sprache des Neuen Testaments unterschieden: Die göttliche Sphäre steht in den Urtexten meist in der Mehrzahl („Unser Vater in den Himmeln …“), das Firmament in der Einzahl.
Lukas spielt in der Himmelfahrtserzählung bewusst mit den beiden Bedeutungen und lädt uns auf diese Weise zu einem radikalen Perspektivwechsel ein. Jesus wird entrückt in ein Reich des ganz Anderen, das uns unzugänglich bleibt. Lukas spricht von einer „Wolke“, die ihn geheimnisvoll verhüllt. Und gleichzeitig werden die Blicke der umstehenden Jünger für einen Moment von der Erde, dem Alltag abgelenkt. Sie schauen Jesus nach, ein bisschen verträumt vielleicht, gewinnen Abstand von dem, was sie unmittelbar umgibt. Sie können die Welt zwar nicht mit den Augen Gottes sehen, aber für einen lichten Augenblick verändert sich ihre Sichtweise.
Heute können wir das noch viel besser nachvollziehen als die Zeitgenossen des Lukas. Es gibt sogar ein Fremdwort dafür: In der Raumfahrt spricht man vom „Overview-Effekt“, wenn die modernen Himmelsfahrer begeistert von ihrem ersten Blick aus dem All auf den Planeten Erde erzählen. Das Erlebnis muss so nachhaltig sein, dass es sogar die Persönlichkeit verändern kann. Aus rationalen Wissenschaftlern werden auf einmal sensible Mahner, die von der Verletzlichkeit der Welt und von unserer Verantwortung reden. Wie der deutsche Astronaut Alexander Gerst, der im November 2014 von der internationalen Raumstation ISS zurückkehrte: „Um zu erkennen, wie schön die Erde wirklich ist, brauchte ich nur eine Minute“, sagt er rückblickend auf seine Mission im All. Alle Grenzen, alle Konflikte erschienen ihm mit dieser neuen Sicht wie ein Sakrileg: „Nur wenn wir gemeinsam handeln, wenn wir uns als die eine Menschheit begreifen, so wie wir sie deutlich aus dem All sehen, können wir die Zukunft gestalten!“ Die Zartheit der Erde hatte schon Gersts frühere ISS-Kollegen beeindruckt: „Wenn wir auf die Erde aus dem Weltraum herabschauen“, erinnert sich der US-Astronaut Ronald Garan, „sehen wir diesen erstaunlichen, unbeschreibbar schönen Planeten, der wie ein lebender, atmender Organismus aussieht. Aber gleichzeitig sieht sie sehr verletzlich aus.“
Der Overview-Effekt ändert die Maßstäbe, rückt die Prioritäten zurecht. „From a distance there is harmony“, sang Bette Midler. Für diesen läuternden, verändernden Blick muss man nicht in eine Raumkapsel steigen, er funktioniert auch in umgekehrter Richtung. Wer von einem geeigneten, dunklen Ort aus den Sternenhimmel betrachtet, kann rund 5.000 Lichtpunkte mit dem bloßen Auge erkennen. Die am weitesten entfernten Sterne sehen wir so, wie sie vor 2,5 Millionen Jahren aussahen – so lange braucht das Licht, um auf die Erde zu gelangen. Und das, was wir wahrnehmen, ist nur ein Mini-Ausschnitt aus dem Universum: Über das Sichtbare hinaus gibt es noch eine unvorstellbar große Anzahl von Sternen – derzeitige Schätzungen belaufen sich auf eine Zahl mit 22 Stellen.
Es ist paradox: Je mehr wir die Winkel des Himmels durchforschen, je gewisser wir sind, dass Gott dort nirgendwo wohnt, umso klarer wird uns, wie sehr wir von unfassbaren Geheimnissen umgeben sind. Die Entzauberung der Schöpfung durch die Naturwissenschaften hat uns in Wahrheit eine neue Verzauberung der Welt beschert. Wir werden bescheidener, wenn wir in den Sternenhimmel schauen, wir werden achtsamer, wenn wir Bilder unseres Planeten aus dem All betrachten.
Wir sehen dann nicht die Unendlichkeit, aber wir sehen die Grenzen der Endlichkeit – den Ort, wo sich Himmel und Erde berühren. Wie die Zuschauer der von Lukas beschriebenen Himmelfahrt. Die Wolke am sichtbaren Himmel verbirgt den Eingang zum unsichtbaren. Die Jünger werden danach wieder aufgefordert, auch gedanklich auf die Erde zurückzukehren. Aber sie tun es verändert.
Ohne diesen Perspektivwechsel, ohne die Berührung mit den Grenzen unserer Sichtweise bleiben wir eingeschlossen in der Diesseitigkeit. Per Ramsdal, der Pastor mit der Jenseits-Abneigung, nahm wenige Wochen nach Weihnachten seine Äußerungen zurück und entschuldigte sich bei den Gläubigen.
OKR Dr. Dr. Frank Hofmann