Tetschener Altar - Das Kreuz im Gebirge
Predigt von Dr. Johann Hinrich Claussen, gehalten am 21.01.2024 im Greifswalder Dom
Die meisten Weihnachtskarten habe ich schnell weggelegt. Nur eine aufgestellt und aufgehoben. Sie zeigt den Altarraum des Greifswalder Doms: Dunkel ist es, aber der Altar – vor allem das hohe Kreuz – sind hell angestrahlt, links und rechts davon stehen zwei ziemlich große, mit Lichterketten geschmückte Tannen. Und dazu ein freundlicher Weihnachtsgruß Ihres Bischofs Tilman Jeremias. Jedes Mal, wenn ich diese Karte auf meinem Schreibtisch ansah, musste ich an das Bild denken, das heute Thema sein soll. Es zeigt ebenfalls ein hohes, durch die Dunkelheit hindurch fast grell angestrahltes Kreuz, mit Tannen links und rechts. So konnte ich mich innerlich vorbereiten und beides zusammenschauen: das Christfest und das Jubiläumsjahr von Caspar David Friedrich. Und ich konnte mich darauf freuen, dass das neue Jahr auch noch anderes als Krisen, Sorgen und Wut bringen würde.
Was ist das Kreuz – wofür steht es – was löst es aus?
Bevor ich aber auf das heutige Predigt-Bild zu sprechen komme, möchte ich einen Schritt zurücktreten und kurz über die einfache, schwierige Frage nachdenken, was das Kreuz ist, wofür es steht, was es auslöst. Für Paulus zeigte sich ihm das ganze Geheimnis Gottes. Denn in ihm habe sich Jesus als die Kraft Gottes offenbart, aber so, dass menschliche Vorstellung von Kraft und Gott dabei durchkreuzt würden.
Man kann es sich aber auch viel einfacher machen und sagen: Das Kreuz ist eine der geometrisch einfachsten Figuren – ein senkrechter Strich gekreuzt von einem waagerechten Strich. Kleinkinder können das zeichnen, aber es bedarf erheblicher geistiger Anstrengung, um die Welten von Sinn und Sinnwidrigkeit zu erfassen, die im Kreuz verborgen liegen. Die junge Christenheit nach Paulus musste weite Wege zurücklegen, um im Hinrichtungsinstrument ihres Messias ein Hoffnungszeichen zu sehen und es als solches öffentlich auszustellen. Erst aus dem frühen 5. Jahrhundert sind ausgeführte Kreuzesdarstellungen erhalten, die das Hinrichtungswerkzeug in ein Triumphzeichen umschmieden. Und manche machten das Kreuz dabei zu einem militärischen Siegesmal der politischen Macht. Das sollte unheilvolle Folgen zeitigen.
Alten Glauben neu werden lassen ...
Vor gut 200 Jahren aber entstand eine neue Situation, der Caspar David Friedrich sich mit Mut und Konsequenz gestellt hat. Er nahm die epochale Aufgabe an, neue Bilder für den alten Glauben zu finden und dabei den alten Glauben neu werden zu lassen. Was für ihn nicht ging, war schlechte Romantik, die das Alte nur imitiert. Denn der Glaube selbst hatte sich in der neuen Zeit gewandelt, alte Hüllen abgestreift, suchte nun eine neue Form und bedurfte deshalb einer anderen Kunst. Deshalb schuf Friedrich ein „Manifestbild“, mit dem er sich selbst die Richtung vorgab. Es trägt den Titel „Das Kreuz im Gebirge“, wird aber meist „Tetschener Altar“ genannt, weil es angeblich für die Privatkapelle eines böhmischen Schlosses gedacht war. Wahrscheinlicher ist, dass Friedrich es aus eigenem Antrieb gemalt hat.
Es ist ein kleinformatiges (115 x 110cm) Bild im Bild im Bild. Das erste Bild ist der Rahmen, den der Dresdener Bildhauer Gottlob Christian Kühn nach Friedrichs Anweisungen geschaffen hat. Unten zeigt er das Auge Gottes, eingefasst in das Symbol der Dreieinigkeit, Strahlen aussendend. Kornähren und Weinranken – die Elemente des Abendmahls – neigen sich von links und rechts über ihm. An den Seiten führen zwei gotische Säulen empor, aus denen Palmenzweige steigen und ein Gewölbe des Ganzen bilden. In ihnen sind fünf Engelsköpfe zu sehen, über denen der Abendstern leuchtet. Das zweite Bild ist eine Landschaftsansicht, sehr genau gemalt, aber keineswegs naturalistisch. Seltsam unvermittelt, wie abgeschnitten, steigt ein Felsen in die Höhe. Auf ihm ragen Tannen empor, dahinter und darüber ein wild bewölkter und von kosmischen Scheinwerfern dramatisch beleuchteter Himmel. Ob gerade die Sonne aufgeht? Die Atmosphäre absoluter Einsamkeit lässt an eine Abenddämmerung und die baldige Nacht denken. Das dritte Bild in diesem Bild ist das leicht aus der Mitte versetzte, allzu hohe Kreuz auf dem Gipfel. Es zeigt nicht den Gekreuzigten, sondern „Christus, wie er, als Bildwerk am Kreuz hängend, zwischen Erde und Himmel zu schweben scheint“. Sehr ungewöhnlich für ein Andachtsbild ist, dass er den Betrachtenden nicht zugewandt ist, sondern halb von hinten gezeigt wird. Das verweist voraus auf Friedrichs spätere Rückenfiguren – zum Beispiel den „Wanderer über dem Nebelmeer“ –, mit denen er die Blicke magisch in seine Bilder hineinsaugte. Diese Rückenansicht aber gibt dem Bild „etwas Verlorenes, eine Ausgesetztheit metaphysischen Ausmaßes“.
Friedrich hat den Tetschener Altar so kommentiert: „Jesus Christus, an das Holz geheftet, ist hier der sinkenden Sonne zugekehrt, als Bild des ewigen allbelebenden Vaters. Es starb mit Jesus eine alte Welt, die Zeit, wo Gott der Vater unmittelbar wandelte auf Erden. Die Sonne sank, und die Erde vermochte nicht mehr zu fassen das scheidende Licht. Da leuchtet vom reinsten, edelsten Metall der Heiland am Kreuz im Golde des Abendrots und widerstrahlt so im gemilderten Glanz auf Erden. Auf einem Felsen steht aufgerichtet das Kreuz unerschütterlich fest wie unser Glaube an Jesum Christum. Immergrün, durch alle Zeiten während, stehen die Tannen um das Kreuz, wie die Hoffnung der Menschen auf ihn, den Gekreuzigten.“
Nicht immer sind Maler die besten Erklärer ihrer Bilder. Wird hier tatsächlich Heilsgewissheit anschaulich? Man kann auch anderes erblicken: das Erschauern vor einem Gipfel und das fast lustvolle Erschrecken im Angesicht der Ewigkeit oder tiefe Wehmut, wenn nicht gar Todessehnsucht oder so etwas Paradoxes wie Nicht-Erlöstheit als religiöses Grundgefühl.
Als Friedrich zu Weihnachten 1808 den Tetschener Altar der Öffentlichkeit vorstellte, kam es zu einer heftigen Debatte. Kritiker nahmen daran Anstoß, dass die Landschaftsmalerei sich hier das Andachtsbild unterworfen habe. Damit trafen sie einen Punkt: In der Romantik von Friedrich – und anderen – wurde die Landschaft zum Hauptgegenstand der christlichen Kunst. Doch was beim Tetschener Altar auf Zeitgenossen schockierend wirkte, löst heute eher die Frage aus, ob das Programm konsequent durchgeführt ist. Denn viel zu mächtig erscheinen traditionelle Bildgegenstände: das Altarhafte, die Symbole des Rahmens, die aufdringliche Lichtmetaphorik, der theatralische Himmel, schließlich das Übersymbol „Kruzifix“. Man sieht beim Tetschener Altar die Kraft und die Grenze von „Manifestbildern“. Sie drängen ihre Schöpfer dazu, sich ein radikales Konzept zu geben, legen sie aber auch fest. Zum Glück sollte es Friedrich in vielen folgenden Werken gelingen, sein Programm freier und subtiler ins Bild zu setzen – in Seelenlandschaften oder nur scheinbar profanen Alltagsszenen. Hier braucht es kein Kreuz mehr, um religiöse Gestimmtheit zu vermitteln. So bei meinem – wenn ich das verraten darf – Lieblingsbild von Caspar David Friedrich, das hier im Pommerschen Landesmuseum hängt, die „Zum Licht aufsteigende Frau“.
Friedrich verstand sich als ebenso frommer wie avancierter Protestant, der eine Umformung des christlichen Glaubens ins Bild setzen wollte, dabei löste er sich von alten Glaubensbildern, um dem für ihn Wesentlichen des Christentums einen neuen Ausdruck zu geben. Dafür widmete er sich der Landschaftsmalerei. Denn sie konnte auf zeitgemäße Weise religiöse Empfindungen darstellen und hervorrufen, die „Flügel der Seele“ sehr weit aufzuspannen: vom „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ über die Ehrfurcht vor dem Erhabenen zur Dankbarkeit für die Schöpfung, zu Vertrauen und Trost, hin zu Sehnsucht und Wehmut sowie schließlich in die Abgründe der metaphysischen Verzweiflung. Gerade diese Nachtseite ist wichtig, damit das Romantische nicht ins Gefühlige mündet: Das Alte muss untergehen, damit Neues wird.
Die Epoche der romantischen Avantgarde ist vergangen. Ihre Lebensbedingungen, Denkvoraussetzungen, Kunst- und Glaubensprogramme sind fremd geworden. Aber seltsam, Friedrichs Bilder sprechen immer noch viele Menschen an. Wieder stehen wir an einer Schwelle zu einer neuen Epoche. Alte Glaubensbilder verlieren an Lebendigkeit. Kann es neue geben? Braucht es neue Bild- und Glaubenserfindungen – die uns nicht einengen, sondern öffnen? Dieses Bild versucht einen Neueinsatz und eine Öffnung. Dabei wollte er die Betrachter nicht auf seine eigene Deutung festlegen. Friedrich meinte, dass es „ein großes Verdienst und vielleicht das größte eines Künstlers < ist>, geistig anzuregen und in dem Beschauer Gedanken, Gefühle und Empfindungen zu wecken, und wären sie auch nicht die seinen“. So kann man in diesem Bild im Bild im Bild einen Trost sehen oder nur die Kreuzung von zwei Linien.
Damit stellt unser heutiges Predigt-Bild eine Frage an uns alle. Besser gesagt, es stellt uns in Frage: Was siehst Du hier, und was bedeutet das Kreuz für Dich?